Ich bin schuld...

Ich hoere sie schon wieder schreien. Sie machen sich gegenseitig fertig. Wann hoert das endlich auf?
Mich kotzt es an, dass meine Eltern sich andauernt streiten muessen, koennen sie nicht einfach mal wie normale Eltern zusammen vor dem Fernseher sitzen?
Und ich bin schuld, ich hoere es sie jedesmal sagen. Jedesmal geht es um mich. Ohne mich wuerden sie nicht streiten, dass weiss ich, ich weiss es ganz genau, zu genau vielleicht.
„drrr“ „drrr“ das Telefon klingelt. Soll ich rangehen? Hinterher ist es fuer meinen Dad und ich bin schuld, wenn es wichtig war und er es nicht mitbekommt. Aber sie streiten doch noch immer...
Vorsichtig schleiche ich zum Telefon, ich will auf keinen Fall auffallen, sonst tuen sie wieder so, als waere alles ok oder ich gerate zwischen die Fronten, ich hab Angst wieder angelogen zu werden, schliesslich weiss ich, dass ich schuld bin.
Ich melde mich am Telefon, es ist Emily, meine Freundin, aber was ist denn nur los, sie weint ja. Sie braucht mich jetzt, also mache ich mich leise auf den Weg zu ihr.
Sie ist total aufgeloest als ich ankomme, ihr Freund hat schluss gemacht, einfach so, ohne Vorwarnung, ohne Begruendung. Sie hat keine Ahnung was passiert ist. Ich schon. Ich bin Schuld, ich hab ihn nie gemocht. Haette ich ihn gemocht waere das bestimmt nicht passiert. Wer sonst soll schuld sein?
Nachdem ich Emily getroestet habe mache ich mich auf den Heimweg. Es ist schon dunkel und ich bekomme Angst. Es ist wieder da, dieses Gefuehl. Ich will nicht Schuld sein, aber ich bin es, ich bin an allem Schuld. Haette ich damals auf meine Mutter gehoert, alles waere anders gekommen, er haette mir niemals wehtun koennen, er haette mich nicht vergewaltigt.
Seit dem Tag war alles anders, ich hatte niemals solche Angst gehabt. Er wollte doch nur nach dem Weg fragen. Und ich war schuld, dass er mich vergewaltigt hat.
Ich bin schuld...
Zuhause kommt meine Mutter auf mich zugestuermt. Sie schreit mich an: „Wo in drei Teufels Namen warst du, wir haben uns sorgen gemacht! Du sollst nicht im Dunkeln raus, schon garnicht ohne uns Bescheid zu sagen. Oder willst du Schuld sein wieder vergewaltigt zu werden?“ Nein das will ich nicht haette ich sie am liebsten angeschrien, aber ich blieb stumm stehen, mit weit geoeffneten Augen. Es tat weh. Warum musste sie mich anschreien? Warum musste mein Vater nur dastehen und nichts sagen? Konnten sie mich nicht einfach schlagen, oder rauswerfen?
Ich will nicht so leben, ich will nicht jeden Tag mit dem Gedanken aufwachen wie es waere tot zu sein. Ich will nicht schuld sein. Schuld daran, dass ich noch lebe.
Mit diesem beklemmenden und draengenden Gefuehl gehe ich in mein zimmer. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch. In der obersten Schublade, gut versteckt unter meinen Schulsachen liegen sie. Meine wahren Freunde, meine Helfer, meine Engel. Klein, Silbern, teils blutig, teils glaenzend. Meine Rasierklingen. Daneben der Schnaps.
Ich schiebe meinen rechten Aermel hoch, und seh meine Narben an. Sie sind teilweise noch nicht verheilt, vielleicht sollte ich lieber nicht den rechten Arm nehmen. Ich schiebe auch den andern Aermel hoch und sehe die feinen verkrusteten Schnitte an, auch sie sind zu frisch. „Also doch am Bein“ denke ich mir und zieh meine Hose aus, die Waden sind eh zu ramponiert um eine frische Stelle zu finden. Also setze ich die Klinge direkt an meinem rechten Oberschenkel an, ich spuere keinen Schmerz, nur Erleichterung. Als endlich das Blut mein Bein runterkullert stoehnte ich leise auf, das tut gut. Endlich habe ich mich bestraft. Bestraft fuer all meine Schulden. Fuer den Streit meiner Eltern, die Trennung meiner Freundin, mein Wegbleiben, die Sorgen meiner Mutter und dafuer, dass ich noch immer lebe. Ich bin sowas von feige. Ich schneide mich immer wieder, sehe meinem Blut zu wie es kullert und schaffe es nichtmal mich umzubringen. Aber dafuer koennte ich mich ja nicht bestrafen. Und ich muss mich bestrafen.
Die groesste Strafe ist nicht das Ritzen, es ist das Leben.


Eine echt...traurige und doch wunderschööne geschichte...kopiert von wild-child.de.tl